Montag, 16. April 2018

Ein Amulett gegen Fehlgeburt — Teil 1


Ein Adlerstein auf Ebay

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Die Idee ist wunderbar, fangen wir gleich damit an. Schulchan Aruch, Hilchot Schabbat, Kapitel 303, Halacha 24 (aus Talmud Bavli 66b):
יוצאה באֶבֶן תְּקוּמָה ובמשקל ששקלו כנגדו שלא תפיל ואפילו לא נתעברה עדיין.
„Eine Frau darf am Schabbat mit einem even tekuma [Schutzstein] ausgehen und mit einem entsprechenden Gegengewicht, damit sie nicht fehlgebärt. Sogar wenn sie nicht schwanger ist.“
Der hier erwähnte Schutzstein, אֶבֶן תְּקוּמָה (even tekuma), den die Frau am Schabbat tragen darf ist gewiss ein Amulett, nur welches? Der Talmud verzeichnet diese Halacha im Namen von Rabbanan und Rabbi Meir, gibt aber keine genaure Auskunft über das Amulett. Mischna Berurah (77) zitiert die Erklärung von Maharaschal (Schlomo Luria 16. Jh.ז"ל):
Ich sah einen Stein mit einem Hohlraum, in dem ein kleiner Stein sich befand wie der Klöppel einer Glocke. Und so ist er entstanden und man sagte dies sei ein אֶבֶן תְּקוּמָה.
Nach der Meinung von Elijah Rabba (Elijah ben Benjamin Schapira, 17. Jh. ז"ל) benutzt man als Gegengewicht eine beliebige Sache, nur muss das Gegengewicht haargenau dem Stein gleichen. Zuletzt schreibt Taz (David ben Samuel Ha-Levi, 17. Jh.ז"ל), dass אֶבֶן תְּקוּמָה in Jiddisch als Schußstern bezeichnet wird ohne zu erklären was genau das ist.

Wir halten fest: Eine Frau darf diesen Stein oder eine gleichwiegende Sache am Schabbat tragen (als Kette oder in der Tasche). Die heilende Eigenschaft des Steins verhindert eine Fehlgeburt. Die Kommentatoren sind sich darüber nicht einig von welchem Stein die Rede hier ist.

Sprach der Talmud wirklich vom Schußstern oder dem klappernden Stein? Was der Talmud unter אֶבֶן תְּקוּמָה verstand werde ich im zweiten Teil besprechen. Ich gehe von der Blüte zur Wurzel. Schauen wir uns zunächst eine Erklärung an.


Der Adlerstein 




Folgen wir dem Hinweis des Maharaschal. Er schrieb:
Ich sah einen Stein mit einem Hohlraum, in dem ein kleiner Stein sich befand wie der Klöppel einer Glocke. Und so ist er entstanden und man sagte dies sei ein אֶבֶן תְּקוּמָה. 
Gesucht wird ein Stein in dessen Hohlraum ein Stein sich befindet. Zusätzlich muss er die Fehlgeburt verhindern, genau wie der even tekuma. Eine Suche auf Google Books führt zu folgender Auswahl. Der französische Apotheker Peter Pomet schrieb 1717 in seinem Buch Der aufrichtige Materialist und Specerey-Händler:
„Adlersteine werden weiße Steine genannt, welche in der Mitte hohl sind, und einen steinigen oder tonigen Kern beschließen, der ein Geräusch macht, wenn man ihn schüttelt … der Adlerstein einer Frau, die zur Geburt arbeitet, ans dicke Bein [Schenkel] gebunden befördere die Geburt, hingegen Mißfall verhüte, wenn man ihn ihr an den Arm gebunden hat…Alle sind von Natur zusammen geküttet [fest verbunden]“

Titelseite von Pomets „Der Aufrichtige Materialist“ von 1717
Das passt sehr gut zur Beschreibung des Maharaschals. Pomet nennt diesen Stein Adlerstein, er ist hohl, macht Geräusche, verhütet die Fehlgeburt und ist so in der Natur anzutreffen. Diese Eigenschaften besitzt auch der Stein, den Maharaschal beschreibt. Pomet gibt uns eine Anleitung wie der Stein benutzt wurde. Am linken Schenkel gebunden verhindert er die Fehlgeburt. An den Arm gebunden schützt es Frühgeburt. Wir haben also den Namen. Dass dieser Stein tatsächlich bei Menschen Anwendung fand erzählt uns der Schweizer Jacob Rüff 1588 in seinem Hebammenbuch:
„Dann hat er [der Adlerstein] ein andern kleinen Stein in ihm, den hört man klopfen, so man ihn schüttelt. Er wird bei dieser Zeit bei reichen Weibern und Fürstinnen hoch gehalten, für das früh und bald genesen … Ferner der Adlerstein, wie du weißt, gebraucht und angebunden an die linke Hüfte.“
Titelseite von Jacob Rüffs „Hebammenbuch“

Warum nur bei reichen Frauen? Der deutsche Arzt Urban Brückmann machte diesen Unterschied nicht als er 1773 über die Benutzung des Adlersteins bei den Frauen in Oldenburg berichtete.

Es gibt keinen Zweifel, Maharaschal meinte den Adlerstein, der vom Mittelalter bis in die Moderne gebraucht wurde. Doch woher hat er seinen Namen und seit wann wird er im Volk benutzt? Es gibt kein besseres Buch als das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, um uns ein Bild davon zu machen was dieser Adlerstein sei.

Dort erfahren wir, Adlersteine (lat. aetites, griech. ἀετίτης, von ἀετός Adler) heißen auch Klappersteine, man findet sie an Bergen oder an Flüssen, sie sind rund oder oval von der Größe einer Nuss bis zu der eines Kindskopfes. Sie bestehen aus Toneisenstein, das sind versteinerte Lebewesen, also Fossilien. Diese Fossilien sind versteinerte Schwämme. Im Inneren haben sie einen Hohlraum, in dem abgelöste Steinchen eingeschlossen sind. Sie klappern wenn man den Stein schüttelt. Dann werden wir auf Plinius verwiesen und dort schauen wir sofort und ohne Umwege nach.

Plinius 

 
Plinius (1. Jh.) schreibt in seiner monumentalen Enzyklopädie Naturgeschichte in 37 Büchern, im zehnten Buch Abschnitt 12 , im dreißigsten Buch 130 und im sechsunddreißigsten Buch 149.
„Von den drei ersten Adlerarten … wird in das Nest der Adlerstein eingebaut, den einige auch gagites nannten; er ist zu vielen Heilmitteln nützlich und verliert nichts durch Feuer. Dieser Stein ist gleichsam schwanger, und wenn man ihn schüttelt, lässt er, wie im Mutterleib, einen anderen hören. Aber diese Heilwirkung haben nur Adlersteine, die unmittelbar dem Nest entnommen sind. Der Adlerstein, den man im Nest des Adlers findet, schützt die Leibesfrucht gegen alle Gefahren einer Fehlgeburt. Ohne diese Steine können die Adler keinen Nachwuchs bekommen. Wenn man Adlersteine schwangeren Frauen … anbindet, halten sie die Leibesfrucht fest; sie dürfen erst bei der Geburt entfernt werden, sonst gibt es einen Gebärmuttervorfall.“
Die erste Seite der aller ersten Druckausgabe der Naturgeschichte von 1469 in Venedig

Der eingeschlossene und bewegliche Stein erinnert an den Fötus im Mutterleib. Die Ähnlichkeit zwischen Stein und Mutterleib führte zum Glauben an die Kraft gegen Fehlgeburt, die ihm zugesprochen wird. Aber wie kommt Plinius auf die Idee, dass ohne Adlersteine Adler keine Babys zeugen können? Ich habe darauf keine Antwort. Die Tatsache, dass der Adlerstein nur dann wirkt, wenn man ihn aus dem Nest entnimmt, erwähnen die mittelalterlichen Quellen nicht. Dafür erwähnen sie den Gebärmuttervorfall; die Kraft des Steines sei so groß, dass er bei der Geburt weggenommen werden muss, da er die Gebärmutter herausziehe. Wie dem auch sei; der Adlerstein hat seinen Namen von den Adlern, die den Stein zum Nest tragen. Plinius scheint also die Quelle zu sein für Alle, die über den Adlerstein schrieben.

Einige Adlerstein


Plinius Werk Naturgeschichte wurde in der Antike und im ganzen europäischen Mittelalter ununterbrochen rezipiert. Sie war eine Fundgrube für Wissenschaftler, Künstler, Dichter, Alchemisten, Kabbalisten, Regisseure und Autoren;. sie umfasst alles von A, Astronomie bis Z, Zoologie. Über 200 Handschriften sind erhalten, das älteste vollständige Manuskript ist aus dem 10. Jh. Deshalb soll uns nicht wundern, dass zwischen dem Römer Plinius und dem Schweizer Jacob Rüff 1700 Jahre liegen. Jacob Rüff schrieb von Plinius ab, genau wie Unzählige vor ihm; so hielt sich Plinius Bericht vom Adlerstein im kulturellen Gedächtnis.

Urban Brückmann berichtete über die Verwendung des Adlersteins noch 1773. Menschen haben ihn tatsächlich gebraucht. Der Volksglaube hat die Tradition vom Adlerstein erhalten. Doch wir können nicht mit Sicherheit sagen ob der Adlerstein unabhängig von Plinius im Volksleben lebte. Ich denke nicht. 1839 wunderte sich der Krünitz über die Wiederholung der Legende, die Adler trugen die Steine ins Nest, von sämtlichen Schriftstellern bis ins 18. Jh. hinein. Er merkte an: „Man scheint sich daher sehr wenig um die Wahrheit dieser Angabe bekümmert zu haben.“ Ferner erwähnt er wie Jemand sich die Mühe machte und der Sache nachgegangen ist aber in den Nestern keine Steine fand. Also konnte sich die Legende durch Abschreiben lange halten, weil niemand sie widerlegen konnte. Adler bevorzugen schwer zugängliche Gebiete und nisten in Felswänden schroffer Gebirgstäler, bis 1900 m hoch. Wer waghalsig ist und das Nest erreicht, muss mit zwei Adlern rechnen, die nicht lange nachgrübeln was ein menschliches Wesen bewegt hat so hoch zu steigen. Adler können sogar Hirsche töten (diese Tatsache erwähnt auch Plinius), da wird ein Adlerstein-Forscher kein schwerer Gegner sein. Mit anderen Worten, im Mittelalter haben Menschen Adler selten zu Gesicht bekommen und noch seltener ihr Nest. Außerdem, überall wo der Adlerstein erwähnt wird trägt er zwei wesentliche Eigenschaften. Er verhindert Fehlgeburt und Adler tragen ihn zum Nest. Keine andere Erklärung und Verwendung wird überliefert, man hätte ihn auch Klapperstein nennen können. Und tatsächlich ist es auch sein Name. Doch auch Plinius erwähnt das Klappern, auch ist es ein augenscheinliches Merkmal. Wegen Plinius ununterbrochener Beliebtheit bei Mönchen, Ärzten, Apothekern und Heilern denke ich, dass der mittelalterliche Volksbrauch sich aus Plinius speiste. Welche Bedeutung diese Frage besitzt für den Gebrauch des Adlersteines durch die Juden, versuche ich gleich zu zeigen.



Maharaschal und Maharaz


Juden wie auch Christen und Muslime benutzten im Mittelalter Edelsteine als Heilmittel. Abraham Ofir Shemesh bringt in seinem Buch חומרי מרפא בספרות היהודית Belege wie rabbinische Autoritäten in ihren Werken Edelsteine als Heilmittel gebrauchten und empfahlen. Responsen behandelten Fragen ob man Steine bei Nichtjuden kaufen dürfe, ob man durch das Zerkleinern der Edelsteine Schabbat entweihen dürfe und ob man Segensprüche bei der Einnahme des Pulvers sage. Wurde auch der Adlerstein von Juden benutzt? Zweifellos. Wann zog er in jüdische Kreise ein? Die erste literarische Gleichsetzung des אֶבֶן תְּקוּמָה mit dem Adlerstein findet sich in Maharaschals Kommentar Namens עמודי שלמה (Salomons Säulen), gedruckt 1600 in Basel und nicht mehr zur Lebzeiten des Autors. Diesen Kommentar schrieb er zum Buch ספר מצוות גדול SeMaG von Moses aus Coucy (13. Jh.). Das ספר מצוות גדול ist organisiert nach Geboten und Verboten und hat Maimonides Mischne Torah zur Grundlage. Bis ins 16. Jh. war es eine Art Schulchan Aruch und genoss große Beliebtheit in der jüdischen Welt, sodass es mehrere Kommentare erhielt und eines der ersten gedruckten jüdischen Bücher war. Das erklärt warum wir so viele wunderschöne Manuskripte dieses Buches besitzen.
Anfang des Buches SeMaG. Ein Manuskript aus dem 14. Jh. aus Straßburg

Maharaschal erwähnt in seinem Kommentar den אֶבֶן תְּקוּמָה nur beiläufig und schreibt nur das, was der Talmud schreibt, von Frauen gegen Fehlgeburt getragen. Doch in Klammern lesen wir folgenden Zusatz:
ואני המעתיק מצאתי בביאורי מהר״ז שווינברט וז״ל אבן תקומה אני ריאתי אבן קצץ שהיה בתוכו חלול ואבן קטן בתוכו כענבל בזוג וכן נברא ואמרו שהוא אבן תקומה
Ich, der Drucker/Kopist fand in der Erklärung von Maharaz Schweinfurt: Ich sah einen Stein mit einem Hohlraum, in dem ein kleiner Stein sich befand wie der Klöppel einer Glocke. Und so ist er entstanden und man sagte dies sei ein אֶבֶן תְּקוּמָה.
Der Zusatz in Maharaschals erster Druckausgabe des עמודי שלמה, Basel 1600.

Das ist recht sonderbar. Ein anderer Autor hat Maharaschals Text mit diesem Zusatz ergänzt und ihn mit Klammern umgrenzt. Diesen Zusatz gibt es in Maharaschals Manuskript nicht. Dieser Unbekannte nennt sich המעתיק, der Drucker. Er schrieb zahlreiche Anmerkungen zu Maharaschals Werk, meistens durch Fußnoten und nicht durch Klammern im Text. Wer ist dieser Autor? Das Werk wurde von dem Schweizer Konrad Waldkirch (1549-1616) in Basel gedruckt. Waldkirch war der Schwiegersohn des erfolgreichen Druckers Pietro Perna, dessen Druckerei er erbte. Perna druckte Bücher über Naturwissenschaft, Alchemie und Magie. Ich weiß nicht ob er den Plinius druckte aber er druckte die Werke Isidors von Sevilla (560-636). Dieser christliche Heilige war Erzbischof von Sevilla, er schrieb Bücher über Geschichte, Grammatik, Theologie und Wissenschaft. Sein Hauptwerk ist die Etymologiae, eine Enzyklopädie über das gesamte Wissen der Zeit von der Spätantike bis zum Frühmittelalter. Die Nachwelt schätzte die Etymologiae sehr, davon zeugen 1000 Manuskripte, die wir von diesem Werk kennen. Isidor war nicht nur ein Kompilator aber er war vor allem ein Kompilator; er verband Textausschnitte aus anderen Schriften zur einer Zusammenstellung von Wissen. Diese Zusammenstellung von Textausschnitten geschah unwissenschaftlich, ohne Prüfung des Geschriebenen; diese Methode nennt man auch Abschreiben. In der Spätantike und im Mittelalter wurde so Wissen weitergegeben. Für Isidors Werk spielte die allumfassende Naturgeschichte des Plinius eine wesentliche Rolle. Plinius' Bericht über den Adlerstein schrieb Isidor wörtlich ab (Buch 16 Kapitel 4.22) und festigte das Wissen vom Adlerstein in der europäischen Kulturgeschichte.

Titelblatt Isidor's Werke aus der Druckerei von Perna. 1577, Basel
Waldkirch kannte die Werke Isidors von Sevilla und damit den Adlerstein. Hat er diesen Zusatz geschrieben? Das ist eher unwahrscheinlich. Er war bestimmt nicht daran interessiert der jüdischen Welt mitzuteilen was er vom אֶבֶן תְּקוּמָה halte, nicht nur wegen mangelnder Hebräischkenntnis. Maharaschals Kommentar war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Den Drucker können wir ausschließen. Das Wort המעתיק kann auch Kopist bedeuten; Jemand, der eine Kopie des Textes anfertigt für das Setzten des Textes. Das Vorwort zum עמודי שלמה schrieb Rabbi Elijah ben Moses Loanz ז"ל (רבי אליהו בעל שם מלואנץ), er ist der Urheber dieses Zusatzes. Er wurde in Frankfurt geboren, sein Lehrer war der Maharal von Prag ז"ל. Loanz war Rosch Jeschiwa in Worms. Er war ein bekannter Kabbalist und Amuletten-Schreiber, ein Meister seines Fachs. In Basel ließ er einige seiner Werke drucken. Der Zusatz in Maharaschals Werk ging seiner Feder hervor. Wer Amulette schrieb und sich mit Mystik beschäftigte, dem durfte der Adlerstein nicht unbekannt gewesen sein. Außerdem macht er auch halachische Anmerkungen; für Waldkirch eine fremde Welt.

Maharaschals Manuskript. Der Zusatz der gedruckten Ausgabe ist hier nicht vorhanden (3. Teile von oben).16. Jh,

Da ist noch etwas. Rabbi Loanz schreibt in diesem Zusatz, die Erklärung, der אֶבֶן תְּקוּמָה sei der Adlerstein, stamme überhaupt nicht von ihm. Sondern gesehen habe er es in einem Buch und möchte dem Leser diese Erkenntnis mitteilen. Das Buch worauf er sich bezieht ist ein Kommentar von מהר״ז, Rabbi Jehuda ben Nathan Sack ז"ל. Er war Rabbiner in Schweinfurt und später in Prag, wo er 1550 starb. Sein Kommentar zum ספר מצוות גדול wurde zum ersten Mal und unvollständig 2003 gedruckt. Ich habe in ein Manuskript seines Kommentars reingeschaut und tatsächlich findet sich dort der von R. Loanz zitierte Satz.

Rabbi Jehudas Sacks Erwähnung des Adlersteins. Die erste Gleichsetzung des אֶבֶן תְּקוּמָה mit dem Adlerstein. 16. Jh. Hamburg.

Da ist noch etwas. Schauen wir uns den Kommentar von R. Sack genauer an. Er beschreibt wie er einen hohlen Stein sah und dann: „ואמרו שהוא אבן תקומה“, „sie sagten/man sagte dies sei der אֶבֶן תְּקוּמָה“. Wer sagte es ihm? In welcher Situation sah er den Adlerstein? Ob er ihn in Schweinfurt sah oder in Frankfurt, wo er studierte, das kann ich nicht rekonstruieren. Ich vermute Rabbi Sack bewegte sich in nichtjüdischen Kreisen, wo er den Stein sah. Er sprach mit Ärzten oder Mönchen, die ihm vom Adlerstein erzählten und er verwies auf einen ähnlichen Stein im Talmud. Sein Buch wurde nicht gedruckt aber diese kurze Notiz gelangte in Druck durch Rabbi Luanz, der es im Maharaschals Kommentar einfügte und druckte. Seitdem ist der Adlerstein in die jüdische Tradition eingegangen.

Und heute?

1500 Jahre nach Plinius Bericht wird der Adlerstein zur jüdischen Tradition. Mich belustigt diese Tatsache etwas. Hätte Plinius jemals damit gerechnet?
Nach der Drucklegung von Maharaschals עמודי שלמה in 1600 wurde dieser Zusatz des Druckers über 400 Jahre lang von Rabbinern wiederholt zitiert, sodass sogar Rav Josef Eliaschiv ז"ל den Adlerstein als אֶבֶן תְּקוּמָה empfiehlt im Gegensatz zu Rav Schlomo Zalman Auerbach ז"ל, der einen ärztliche Untersuchung bevorzugt. Abraham Ofir Shemesh veröffentlichte diese Straßenanzeige:


Hier steht: Große Rabbiner empfehlen. Empfehlen mit dem אֶבֶן תְּקוּמָה zu gehen gegen Fehlgeburt. R. Eliashiv, R. Kanievsky, R. Halberstamm. Stein im Stein, usw.

Da es mir etwas peinlich war ließ ich meine Frau dort anrufen. Die Verkäuferin wollte 70 bis 300$ für den Stein (auf ebay gibt's den für 25€). Sie sagte aber, dass er nur für Frauen geeignet sei, die bereits eine Fehlgeburt hatten. Für Frauen, die eine normale Geburt erwarten empfahl sie einen Rubin. Wir sehen, der Adlerstein lebt in der jüdischen Kultur fort.

Im nächsten Teil werde ich der Frage nachgehen, ob der Adlerstein wirklich der Stein sei, von dem der Talmud schrieb.


Sonntag, 25. Februar 2018

Das Fettschwanzschaf in der Mischna

Das Buch Mischna Bahira ist ein ausgezeichnetes Werkzeug für das Studium der Mischna. Viele Zeichnungen und Erläuterungen helfen den Text zu verstehen. In der Mischna Schabbat bin ich auf folgendes Bild gestoßen:


Die Mischna handelt von Ausrüstungen und Gegenständen mit denen die Tiere am Schabbat nicht ausgeführt werden dürfen. Dort steht (5:4):
Warum sollte man Schafen einen Wagen unter den Schwanz binden? Die Kommentatoren schreiben:
Der Wagen beschützt den Schwanz, damit er nicht gegen Steine schlägt. Das Tier darf damit nicht rausgehen weil der Wagen abfallen kann, worauf man den Wagen tragen würde.
Die Mischna bespricht immer praktische Beispiele, also muss es dran sein.
Als ich neulich Herodot las, fand ich folgendes.
Herodot schreibt im 3. Buch 113:
Zwei Merkwürdige Arten Schafe, die es nirgends sonst gibt, findet man in Arabien. Die eine hat lange Schwänze, mindestens drei Ellen lang. Ließe man das zu, dass das Schaf den Schwanz nachzieht, so würde es ihn an der Erde wund reiben. Alle Hirten aber verstehen sich soweit auf das Zimmerhandwerk, dass sie kleine Wagen zimmern und sie unter die Schwänze binden. Jedes Tier hat solch einen Wagen unter seinem Schwanz. Die andere Art hat breite Schwänze, die wohl eine Elle breit sind.
In den Erläuterungen schreibt Herr Haussig, dass Herodot sich auf das Fettschwanzschaf bezieht. Also fand ich folgendes heraus:
Das Fettschwanzschaf kommt vor in Nordafrika, Ägypten und Arabien. Das Fett im Schwanz dient als Nahrungsspeicher wie beim Kamel der Höcker. Das Fettschwanzschaf ist ein von Menschen gezüchtetes Tier, denn alle wilden Schafe haben einen dünnen Schwanz. Es wurde absichtlich so gezüchtet aus folgendem Grund. Das Tier kann das Fett nur in Flüssigkeit verstoffwechseln. Die Körpertemperatur des Tieres ist höher als die Außentemperatur. Wenn das Tier das Fett nah am Körper verstoffwechselt, wird das Fett härter. Verstoffwechselt es aber im Schwanz, bleibt das Fett weicher und hat einen geringeren Schmelzpunkt beim Kochen.
Hartes Fett wird im Körper in Klumpen gespeichert und kann in großen Mengen entfernt werden. Im Gegensatz ist weiches Fett überall im Körper verstreut. Deshalb war es für die Züchter nützlich das weiche Fett an einem Ort zu konzentrieren. In arabischen, iranischen und türkischen Kochbüchern aus dem Mitteltaler finden sich zahlreiche Rezepte mit Fett aus dem Schwanz. Auch heutzutage wird es in diesen Ländern verwendet.
Übrigens bedeutet das hebr. Wort אַלְיָה (alija) Fettschwanz.
Aus Wikimedia. A New History of Ethiopia (1684).

Die Kreuzigung von Haman und Purim

Michelangelos Haman

Michelangelo, der große Meister der Bildhauer und Malkunst, malte die Decke der Sixtinischen Kapelle aus. Die Sixtinische Kapelle ist der Ort, wo die Wahl des Papstes stattfindet. Michelangelo arbeitet daran von 1508-12 und malte 24 Tage lang am Gemälde von Haman.
Beim Betrachten des Gemäldes scheint das einzige richtige Detail Hamans unbeschnittener Zebedäus zu sein. Was ist mit dem Rest? Warum hängt Haman gekreuzigt am Kreuz? Wir lesen doch in Esther 5:14 wie Hamans liebenswürdige Frau Seresch Haman den Rat gibt seinen Erzfeind Mordechai loszuwerden, indem er ihn an einen Pfahl (עץ) hängen soll. Die Sache nimmt einen anderen Lauf, Haman wird selbst Opfer seines bösen Plans und endet hängend am Pfahl (8:7). Also plante Haman Mordechai auf einem Stück Holz aufzuspießen.
Hat Michelangelo etwas mißverstanden? Nein hat er nicht. So wie sein gehörnter Moses, beruht auch die Kreuzigung von Haman auf der lateinische Bibelübersetzung , die Vulgata. Dort steht nämlich, dass Haman ein Kreuz (crux) aufstellte und selbst daran gehängt wurde (5:14, 8:7)

Septuaginta

Jetzt stellt sich die Frage wie die Vulgata, bzw. der Übersetzer Hieronymus, darauf kam, Pfahl mit Kreuz zu übersetzen? Die Antwort ist einfach. Hieronymus benutzte die Septuaginta, also die griechische Tora Übersetzung aus dem 3. Jh. v.d.Z. (wobei Esther etwas später übersetzt wurde). In der Septuaginta wird die Kreuzigung von Haman im folgendem Kontext erwähnt. Die Szene ist dramatisch und zugleich witzig. Die Königin Esther erzählt dem König Achaschwerosch im Beisein von Haman über dessen Plan die Juden umzubringen. Haman hat bis jetzt nicht gewusst, dass Esther Jüdin ist. Der König Achaschwerosch wird sauer und geht heraus, um sich abzukühlen. Während Esther und Haman allein sind, fällt Haman ihr zu Füßen und winselt um sein Leben. Der König kommt wieder und mißversteht die Pose. Er denkt Haman möchte die Königin verführen. Zufällig war ein Eunuch des Königs zugegen und ihm fiel ein: war da nicht ein Pfahl den Haman errichtet hat? Der König hat einen Gedankenblitz und sagt (7:9):
εἶπεν δὲ ὁ βασιλεύς σταυρωθήτω ἐπ᾽ αὐτοῦ
Er soll daran gekreuzigt werden
Haman wird gekreuzigt, die Juden werden gerettet und Mordechai und Esther sind die Helden.
Im hebräischen Text steht nichts von Kreuzigung, sondern von Hängen (=תלה). Warum haben die Übersetzter der Septuaginta das Hebr. תלה (=hängen) mit σταυρόω (=kreuzigen) übersetzt?

Herodot

Den historischen Hintergrund gibt uns Herodot. Er berichtet wie der Perser Darius (דָּרְיָוֶשׁ) an die 3000 Babylonier ans Kreuz nagelte (3.159). Die Kreuzigung war eine übliche Art der Hinrichtung bei den Persern. Das bestätigt auch Josephus in seiner Nacherzählung der Esther Geschichte (Ant. 21:268) Also wollten die Übersetzer von Esther diese persische Art der Hinrichtung auf die Esther Geschichte übertragen. Jetzt könnte man denken, dass diese Interpretation nur ein Einfall der Septuaginta sei und dass sich keine Spur davon im traditionellen Judentum finde. Doch man wird sehr überrascht sein.

Targum Scheni

Der 2. Targum zu Esther (Targum Scheni) ist eine Übersetzung ins Aramäische und zugleich ein Midrasch. Der Targum bringt viele Geschichten und Erweiterungen und macht das Buch um etwa 50% länger. Er schreibt zu Vers 8:7 folgendes:
הא ביתא דהמן יהבית לאסתר ויתיה צליבו על צליבא על דפשׁיט ידיה ביהודאי
Siehe, das Haus Hamans habe ich Esther gegeben, und ihn kreuzigte man ans Kreuz, weil er seine Hand gegen die Juden ausgestreckt hat.
Der Targum sieht Hamans Hinrichtung als Kreuzigung. Schauen wir uns mal die Wörter Genauer an. Der Targum spricht von צליבו על צליבא. Im modernen Hebräisch bedeutet צלָב Kreuz. Hat es auch die gleiche Bedeutung in der Sprache der חַזַ"ל? Nach den Mitarbeitern von Artscroll, nein. Sie übersetzen תלה und צלב immer als hängen. Doch kann das sein? Schauen wir uns einige Beispiele an wo das Wort צלָב vorkommt und versuchen aus dem Kontext die Bedeutung abzuleiten.

Beispiel Get

Eine Ehe wird nur durch Scheidung oder den Tod des Gatten aufgelöst. Der Gatte vollzieht die Scheidung indem er seiner Frau einen Scheidebrief überreicht (גט Get). Wenn der Gatte die Scheidung verweigert, kann die Frau nicht weiter heiraten. Dieser Umstand der Frau heißt agunah (עֲגוּנָה=gebunden). Das gilt auch, wenn der Mann “nur mal eben Zigaretten holen” geht und nicht wieder kommt oder wenn er in den Krieg zieht und verschollen wird. Stirbt der Mann, wird die Frau frei und kann wieder heiraten. Das geht aber nur, wenn es einen Zeugen gibt, der mit Klarheit den Tod des Mannes bezeugen kann.
Im Talmud Gittin 70b:
ראוהו מגויד או צלוב על הצליבה ורמז ואמר כתבו גט לאשתי הרי אלו יכתבו ויתנו
Wenn man einen zerschnittenen oder am Kreuz geschlagenen sieht und er durch Zeichen andeutet, dass man seiner Frau einen Scheidebrief schreibe, dann schreibe man ihn.
Man stellt fest: Der Mann ist nicht sofort tot, er kann Zeichen geben. Wenn צלב hier hängen hieße und nicht kreuzigen, dann wäre diese Stelle nicht verständlich. Denn ein gehängter kann keine Zeichen geben und außerdem bräuchte man sie auch nicht, weil der Tod in kürze eingetroffen wäre. Aber hier scheint die Person noch eine weile zu leben. Hätten die Zeugen ihn nur am Kreuz hängen sehen, wäre es kein eindeutiger Beweis für den Tod des Mannes.
Das sagt auch die Mischna in Jebamot 16:3 so:
אין מעידין אלא עד שתצא נפשו ואפילו ראוהו מגוייד וצלוב
Man darf nicht bezeugen bis seine Seele ausgegangen ist, selbst wenn man ihn zerschnitten oder gekreuzigt hat.
Der Zeuge muss also warten bis der Mann stirbt. Wartet er nicht ab, wird seine Zeugenaussage bestritten und die Frau kann nicht geschieden werden. Aber warum? Warum ist die Beobachtung der Kreuzigung kein eindeutiger Beweis für den Tod? Das verrät der Jeruschalmi zur Stelle:
וצלוב על הצלוב אומר אני מטרונא עברה עליו ופדאתו
Bezüglich des am Kreuz gekreuzigten — Ich sage, eine Frau kam vorbei und befreite ihn.
Hieraus ergibt sich, dass es für den Gekreuzigten noch eine Überlebenschance gibt. Er kann bei einer Nacht und Nebel Aktion von einer Frau abgehängt werden. Deshalb ist es nötig festzustellen, dass der Mann tatsächlich tot ist. Bedeutete hier צלב hängen, wie hätte er Überleben können? Übrigens fügt der Jeruschalmi hinzu, dass folgende Beobachtungen nicht unmittelbar den Tod bedeuten: Jemand wird in eine Löwenhöhle geworfen, denn ein Wunder könnte geschehen wie für Daniel. Jemand wird in einen glühenden Ofen geworfen, denn ein Wunder könnte geschehen wie für Mischael, Hananiah und Azariah. Jemand fällt in eine Grube voll von Schlangen, denn er könnte ein Schlangenbeschwörer sein. Parallel dazu legt der Midrasch Esther Rabba 9:2 folgende Worte in den Mund von Seresch, der Frau von Haman:
אמרה לו אשתו אדם זה שאתה שואל עליו אם מזרע היהודים הוא לא תוכל לו אם לא תבא עליו בחכמה במה שלא ניסה אחד מבני אומתו, שאם תפילו לכבשן האש כבר הוצלו חנניה וחביריו, ואם לגוב אריות כבר עלה דניאל מתוכו, ואם תאסרהו בבית האסורים כבר יצא יוסף מתוכו, ואם במולי תסיק תחתיו כבר התחנן מנשה ונעתר לו הקדוש ברוך הוא ונפק מיניה, ואם במדברא תגלוניה כבר פרו ורבו אבותיו במדבר וכמה נסיונות נתנסו ובכולן עמדו וניצלו, ואם עיניו תעוור הרי שמשון דקטל כמה וכמה נפשתא מפלשתאי כד עויר, אלא צלוב יתיה על צליבא דלא אשכחינן חד מן עמוי דאשתזיב מניה
Seine Frau sagte ihm: Dieser Mensch, den du töten willst (Mordechai), ist er Jude, wirst du ihn nicht bezwingen können, wenn du nicht mit List handelst, womit noch keiner seiner Väter geprüft wurde. Wenn du ihn in einen glühenden Ofen wirfst, Hananiah und seine Freunde wurden daraus errettet. Wenn du ihn in eine Löwengrube wirfst, Daniel hat es überlebt. Steckst du ihn ins Gefängnis, Josef wurde daraus befreit. Setzt du ihn auf glühendes Eisen, Menasche hat zu Gott gebetet und wurde befreit. Verbannst du ihn in die Wüste, seine Vorfahren waren fruchtbar und vermehrten sich in der Wüste. Blendest du seine Augen, Schimschon war wurde geblendet und hat viele Philister getötet. Kreuzige ihn ans Kreuz (צלוב יתיה על צליבא), denn niemand aus seinem Volk hat es bisher überlebt. (ob das eine Anspielung auf etwas ist?)
Das ist ein sehr schöner Midrasch, der die Schicksalsschläge der Helden aus dem Tanach zusammenfasst. Aus den genannten Beispielen ist die Bedeutung von צלב als Kreuz ersichtlich.
Noch zwei Beispiele möchte ich bringen, um zu beweisen, dass צלב Kreuz bedeutet.

Beispiel Chagall und Midrasch

Was ist von diesem Bild von Marc Chagall zu Halten?
Das ist eine Szene aus der Akeda (Gen. 22:1-19). Der Engel erscheint und verbietet Abraham Isaak zu töten. Doch was ist da im Hintergrund? (Der rote Kreis gehört nicht zum Bild) Ist das etwa ein Kreuz? Und ein Mann der das Kreuz trägt? Tatsächlich. Ich wette, dass alle Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen nur eines hier erkennen. Denn bestimmt haben sie niemals von diesem Midrasch gehört.
ויקח אברהם את עצי העולה וישם על יצחק בנו כזה שטוען צלובו בכתפו
Abraham nahm das Holz für das Ganzopfers und lud es auf seinen Sohn Isaak, wie Jemand, der sein Kreuz auf seiner Schulter trägt.
Und wieder begegnet uns hier das Wort צלב. Die Autoren des Midrasch haben zur Zeit der Römer gelebt, sie wussten, dass der Verurteilte sein Kreuz selbst zum Ort seiner Hinrichtung trägt. (Das berichtet auch Plutarch in Mor.554) Deshalb übertrugen sie es auf Isaak. Als ob Abraham Isaak mit dem Kreuz andeuten wollte, dass er das Opfer sei und bald sterben werde. (Sogar Artscoll muss in einer Fußnote zugeben, dass es hier um Kreuzigung handeln könnte.)

Beispiel Esther Rabba

Kehren wir zu Esther zurück. Wenn wir uns von der Bedeutung von צלב für Kreuz noch nicht überzeugt haben, wird der Midrasch Esther Rabba 10:5 Licht uns Dunkle bringen. Haman beschwert sich über sein Unglück wie Mordechai immer wieder über ihn triumphiert:
אמש אני הייתי עסיק להתקין ליה צליבא והקב"ה מתקין ליה כלילא, אני הייתי מתקן לך חבלים ומסמרים והקב"ה מתקן לך לבוש מלכות, אנא בעינא מן מלכא למיצליב יתך על צליבא והוא אמר לי למירכב לך על סוסיא.
Gestern bereitete ich für ihn (Mordechai) das Kreuz (צליבא) vor, aber Gott hat für ihn die Krone vorbereitet. Ich bereitete Seile und Nägel (חבלים ומסמרים), aber Gott hat für ihn die Königskleidung bereitet. Ich ging zum König um die Erlaubnis seiner Kreuzigung zu bitten, aber er befahl mir ihn auf das Pferd zu setzten.
Hamans Absicht war also die Kreuzigung, da er Seile und Nägel bereitstellte, bis sein Plan vereitelt wurde. Und wohin soll das jetzt alles führen? Wenn wir jetzt wissen dass צלב Kreuz bedeutet, können wir das folgende merkwürdige Gesetz verstehen.

Jetzt wird es interessant.

Nachdem Kaiser Konstantin (3. Jh.) die Kreuzigung im römischen Reich abgeschafft hat, ist das Kreuz vom Hinrichtungswerkzeug zum religiösen Symbol der Christen geworden (Meiner Meinung nach eine makabere Vorstellung aber Mosambik hat ja auch eine Kalaschnikow in der Fahne) Am 29. Mai 408 wurde in Konstantinopel ein Gesetz erlassen. Das Gesetz verbietet den Brauch ein Bildnis von Haman zu verbrennen, das an einem Kreuz hängt. Dieser Brauch wurden von den Christen als Verhöhnung ihres Glaubens empfunden.
Iudaeos quodam festivitatis suae sollemni Aman ad poenae quondam recordationem incendere et sanctae crucis adsimulatam speciem in contemptum Christianae fidei sacrilega mente exurere provinciarum rectores prohibeant, ne iocis suis fidei nostrae signum inmisceant, sed ritus suos citra contemptum Christianae legis retineant, amissuri sine dubio permissa hactenus, nisi ab temperaverint.
Die Gouverneure der Provinzen sollen den Juden verbieten Haman anzuzünden, in einer gewissen alljährlichen Feier, in Erinnerung an seine Strafe und das Verbrennen der Gestalt, die dem heiligen Kreuz nachgebildet ist, mit frevelhafter Absicht und in Verachtung des christlichen Glaubens. Damit sie nicht das Zeichen unseres Glaubens mit ihrem Spaß verbinden und sie sollen ihren Brauch in Schranken halten das christliche Gesetz zu verspotten. Denn sie werden das verlieren, was ihnen bisher gestattet wurde, wenn sie sich nicht mäßigen.
Also was haben wir hier? Die Juden in Konstantinopel im 5. Jh. hängen Haman ans Kreuz und verbrennen ihn am Purim? Das scheint also ein alter Brauch zu sein. Nach 1-2 lechaims unverdünnten 18% prozentigen Weins hat man schon den Unterschied zwischen „verflucht Haman, segnet Mordechai” vergessen (Rava hat auch Rav Zeira im Vollrausch getötet (Megilla 7b)). Was ist der Ursprung dieses Brauchs? Ich denke es ist die Tradition, geschöpft aus den Midraschim, die Hamans Hinrichtung als Kreuzigung verstanden haben. Die Juden haben nicht in frevelhafter Absicht praktiziert und niemand fand daran Anstoß bis das Kreuz zum religiösen Symbol geworden ist. Einen ähnlichen Brauch finden wir in Babylonien, jedoch ohne Kreuz. Hier ist ein Responsum eines Gaons aus Babylon.
מנהג בבבל ובעילם הבחורים עושים צורה בדמות המן ותולין אותה על גגותיהן ד׳ וה׳ ימים וביום הפורים עושין מדורה גדולה ומשליכין אותה הצורה באש
Ein Brauch in Babel und Elam: Die Burschen machen eine Figur von Haman und hängen sie auf ihre Dächer für 4 oder 5 Tage. Am Purim machen sie ein großes Lagerfeuer und werfen diese Figur hinein.
Durch die Jahrhunderte entwickelten sich immer Bräuche Haman zu verspotten. Ich habe auch von einer Jeschiwa in Berlin gehört, wo die Burschen vor Purim eine Haman Puppe auf einen Galgen hingen. Als der Wärter in der Morgendämmerung den Hof betrat und die Schattenrisse einer Person sah, die am Galgen hing, rief er sofort die Polizei. Als es sich jedoch herausstellte, dass es eine Puppe war, haben sie fröhlich miteinander Purim gefeiert.
Übrigens, was viele nicht wissen. Michelangelos gehörnter Moses hat auch eine Quelle im Midrasch. In Midrasch Tehilim zu Psalm 75 heißt es:
עשר קרנות הן שנתן הקדוש ברוך הוא לישראל, קרן אברהם…קרן יצחק…קרן משה, שנאמר כי קרן עור פניו
Es gibt 10 Hörner, die der Ewige Israel gab. Das Horn des Abrahams…das Horn von Isaak…das Horn von Moses, denn es heißt: Die Haut seines Gesichtes hatte Hörner (Ex. 34:29).

Sonntag, 5. Juni 2016

Ein Samowar in der Mischna



Meine Frau ist eine begeisterte Teetrinkerin. Besonders in den kalten Wintermonaten. Auch am Schabbat wollte sie ihrer Leidenschaft nachgehen. Deshalb haben wir uns diesen Wasserkocher besorgt.Bratscher Regina 40
Bratscher Regina 40

Er ist über Schabbat die ganze Zeit an, da man am Schabbat kein Wasser kochen darf.

Problem:
Es ist verboten am Schabbatvorabend ungekochtes Essen auf dem Herd zu lassen, sodass das Essen erst am Schabbat fertigwird. Dieses Verbot ist ein Zaun um die Torah, damit man nicht dazu kommt ein Verbot der Torah zu übertreten. Der Grund ist praktisch. Jemand empfängt Gäste am Schabbat und bemerkt, dass das Essen immer noch nicht fertig ist, er könnte dazu kommen die Flamme aufzudrehen. Dabei würde er 2 Torah Verbote übertreten, Feuer machen und Kochen. Auch wenn man die Flamme vor Schabbat voll aufdrehen würde ist es trotzdem verboten. Denn Sobald man am Schabbat das unfertige Essen auf dem Herd umrührt oder den Topf mit dem Deckel bedeckt, zählt es so, als ob man das Essen gekocht hätte, weil man den Prozess des Kochens beschleunigt.

Es gibt jedoch Ausnahmen bei denen es keine Befürchtung gibt, dass man die Gesetzte von Schabbat übertreten würde, sodass man das Essen am Schabbatvorabend auf der Flamme lassen kann. Wenn das Essen gekocht und fertig zum Auftischen ist, dient die Flamme nur als Wärmehalter. Folglich darf man das fertige Essen am Schabbatvorabend auf der Flamme lassen, es gibt keine Befürchtung, jemand würde die Flamme aufdrehen.

Lösung:
Ungekochtes Essen - Man kann unfertiges Essen auf der Flamme lassen, sodass es am Schabbat gekocht wird, wenn man verhindert, dass jemand am Schabbat die Flamme aufdreht. Heutzutage gibt es 2 Möglichkeiten. Das sog. Blech womit man die Kochplatte bedeckt dient als Erinnerung, dass es Schabbat sei und verboten die Flamme aufzudrehen. Oder man benutzt eine Schabbatplatte. Diese Platte wärmt mit konstanter Flamme, die von einem Blech bedeckt ist, man kann nichts einstellen oder verstellen. Dank diesen 2 Möglichkeiten kann man am Schabbatvorabend unfertiges Essen auf dem Herd oder Platte lassen, damit es am Schabbat gekocht wird.
Gekochtes Essen - Man kann das bereits fertige Essen am Schabbat auch aufwärmen. Wir machen das so, dass wir die Schabbatplatte an eine Zeitschaltuhr anschließen. Wenn wir aus der Synagoge nach Hause kommen geht die Platte an und wir nehmen das Essen aus dem Kühlschrank und stellen es auf die Platte.

Wasser- Bei Wasser ist das nicht so. Wenn gekochtes Wasser abkühlt zählt es so, als ob es in den ungekochten Zustand wieder zurückkehrt. Würde man also kaltes Wasser, oder eine Suppe, auf die Platte stellen, würde man die Gesetzte von Schabbat übertreten. Deshalb ist ein Schabbatkocher ein nützliches Gerät. Es lässt das Wasser über Schabbat nicht abkühlen, sondern hält es immer warm.

Geschichte
Wie war es früher? Wie haben Juden am Schabbat ihr Essen warmgehalten? 

Zur Zeit der Mischna kochte man mithilfe von Kohle. Um das unfertige Essen am Schabbat auf dem Herd zu lassen musste man die Kohle auskehren (גרף) oder die Kohle mit Asche bedecken (קטומה). Das Auskehren würde verhindern, dass man die Kohle anschürt, das Bedecken mit der Asche wäre ein Zeichen zur Erinnerung, dass man die Kohle nicht anschüren darf oder um sie abzukühlen.

Quelle
In der Mischna Schabbat 3,3 werden 2 seltsame Geräte beschrieben, die man nicht zum Kochen verwendete. Sie dienten dazu Speise und Getränke warm zu halten.


מולייר הגרוף שותין ממנו בשבת, אנטיכי אף על פי שהיא גרופה אין שותין ממנו
Ein Miliarium, hat man es ausgekehrt (die Kohle entfernt) darf man daraus am Schabbat trinken, ein Antichi, obwohl man es ausgekehrt hat, darf man daraus nicht trinken.


Was sind das für seltsame Geräte und warum bringt es nichts beim Antichi die Kohle zu entfernen? – Um das zu verstehen müssen wir uns die römischen Geräte zur Warmhaltung von Wasser anschauen.

Auf Altgriechisch heißen diese Geräte „Authepsa“ (αὐθέψης), das bedeutet wörtlich Selbstkocher. Sie sind die Vorgänger vom russischen Samowar (самовар), das auch Selbstkocher bedeutet. Auf Latein wurden sie „miliarium“ genannt.
Diese Selbstkocher sind Metallgefäße aus Eisen oder Kupfer. Sie bestehen aus mehreren Teilen, die man zusammenfügen kann. Hier ein Beispiel aus Pompeji:

Authepsa aus Pompeji

Authepsa aus Pompeji im Durchschnitt

Diese schöne Authepsa hat einen melonenförmigen Körper mit schneckenähnlichen Henkel und einen kegelförmigen Deckel. Der Heizzylinder befindet sich in der Mitte; er steht auf einem Rost. Auf dem Rost sind Löcher für die Luftzufuhr, damit die Kohle schön glüht. Die Löwenpfoten halten das Gerät über dem Boden, damit genügend Sauerstoff durch die Löcher am Rost zirkuliert. Durch die Röhre an der Seite gelangt Wasser in den Flüssigkeitsbehälter. Jetzt erwärmt die heiße Kohle das Wasser im Flüssigkeitsbehälter. Mithilfe des Ventils auf der linken Seite kann man den heißen Dampf und das heiße Wasser ablassen.

Unter den 15 Authepsae, die man bis heute gefunden habt, sind die meisten transportierbar. Man kann sie in die Tasche packen und ein Picknick machen. Für die Römer war eine Authepsa ein sehr luxuriöser Gegenstand, alle gefunden Authepsen sind sehr kunstvoll verziert, fast alle stehen auf Löwenpfoten. Die Römer verwendeten sie in Trinkmählern, um Calda herzustellen, eine Art Glühwein, aber auch Tee.

Authepsa aus Stabiae

Das ist eine stationäre, größere Authepsa. Der Aschenbehälter wird von vier Löwenpfoten getragen. Auf den Löwenpfoten sitzen Sirenen. Auf dem Aschenbehälter befindet sich ein Flüssigkeitsbehälter, auf dem eine Fratze sitzt (ein Mythenwesen?). Der Griff des Deckels ist auch ist einem Kopf verziert. Der halbrunde Zylinder daneben besteht aus einer Doppelwand, auf der ein Wasserhahn in Form eines Löwenkopfes sitzt. Der doppelwandige Zylinder ist mit dem Wasserbehälter verbunden.
Das Gerät funktioniert so: Deckel auf, Wasser rein. Das Wasser fließt durch das Rohr B in den Hohlraum des Zylinders C. Von hier aus kann es durch den Hahn D fließen. In der Mitte des halbrunden Zylinders brennt die Kohle und wärmt das Wasser in der Doppelwand. Der Aschenbehälter wird für die Lagerung von Kohle und Asche benutzt. Solange das Wasser im Flüssigkeitsbehälter auf der gleichen Höhe steht wie der Wasserhahn, fließt heißes Wasser. Jetzt kann man einen Tee machen. Auf den halbrunden Zylinder kann man auch einen Topf mit platzieren, sodass er von der Kohle gewärmt wird.

Ebenfalls aus Pompeji
Im Durchschnitt


Dieses 1m hohes Gerät funktioniert ähnlich wie die bereits erwähnten. Nur das man hier die Kohle durch die Türpforten reinlegt. Dann hängt man von oben einen Kessel mit Speise rein, so kann man es warmhalten.

Fragestellung:
Wenn wir uns wieder die Mischna anschauen, sehen wir, dass man alle diese Geräte benutzten darf, wenn man die Kohle auskehrt oder sie mit Asche bedeckt. Doch das trifft nur auf das Miliarium מולייר zu, was ist mit dem Antichi אנטיכי ? Warum darf man es nicht benutzten, obwohl man die Kohle entfernt hat? Was ist das überhaupt für ein Gerät?

Der Talmud Jeruschalmi 6a beschreibt diese Geräte so:

מולייר הגרוף שותין ממנו בשבת. הא אם אינו גרוף לא. אמר ר' שיין מפני שהגחלים נוגעות בגופו. אמר ר' חנינה בריה דר' הילל מפני שהרוח נכנסת בגופו והגחלים בוערות. אמר רבי יוסי בי רבי בון מפני שהוא עשוי פרקים פרקים הוא מתיירא שמא נתאכל דיבוקו והוא מוסיף מים

Aus einem ausgekehrten Miliarium darf man am Schabbat trinken. Wenn man ihn nicht ausgekehrt hat, dann nicht. Rabbi Schijan sagt: weil die Kohle seinen Körper berührt. Rabbi Hanina der Sohn von Rabbi Hillel sagt, weil der Wind in seinen Körper eindringt und die Kohle anfacht. Rabbi Jose ben Rabbi Abun sagt, weil es aus Teilen gemacht ist, er ist verängstigt, dass der Kleber abgeht, sodass er Wasser hinzufügt. 


אנטיכי אף על פי שגרופה אין שותין ממנה. רבי חנניה רבי יוסי ר' אחא אבא בשם רבי יוחנן מפני שהיא מתחממת מכתליה. רבנן דקיסרין רב הונא בשם רב אם היתה גרופה ופתוחה מותר

Aus einem Antichi, obwohl ausgekehrt, darf man nicht trinken. Rabbi Hanania, Rabbi Josi, Rabbi Acha Abba im Namen von Rabbi Jochanan, weil es von seinen Wänden geheizt wird. Die Rabbiner von Caesarea, Rav Huna im Namen von Rav, wenn es ausgeschürt und offen ist, darf man daraus trinken.

Der Grund dafür, dass man das Miliarium benutzten darf, wenn man die Kohle auskehrt ist also: 1. Die Kohle wird durch den Wind angefacht 2. Man würde aus Sorge um seine Einzelteile kaltes Wasser zugießen.  Doch die Begründung warum man den Antichi nicht benutzten darf finde ich etwas seltsam, nämlich: weil es von seinen Wänden geheizt wird. Was bedeutet das? Die Wände heizen das Gerät weiter, obwohl keine Kohle drin ist?
Nach der Meinung von Rav darf man das Gerät betreiben, wenn man die Deckel aufmacht, doch der Bavli 41a widerspricht dem:

היכי דמי מוליאר הגרוף? - תנא: מים מבפנים וגחלים מבחוץ. אנטיכי, רבה אמר: בי כירי. רב נחמן בר יצחק אמר: בי דודי. מאן דאמר בי דודי - כל שכן בי כירי. ומאן דאמר בי כירי, אבל בי דודי - לא. תניא כוותיה דרב נחמן: אנטיכי אף על פי שגרופה וקטומה - אין שותין הימנה, מפני שנחושתה מחממתה

Ein Miliarium, hat Wasser auf der Innenseite und Kohlen auf der Außenseite (Andere Lesart: Kohle auf der Innenseite und Wasser auf der Außenseite) … Folgendes wird übereinstimmend mit R. Nachman gelehrt: Aus einem Antichi darf man nicht trinken, selbst wenn die Kohle entfernt oder mit Asche bedeckt sind, weil ihn der Boden wärmt.

Der Bavli sagt uns zunächst die Definition vom Miliarium: Wasser auf der Innenseite, Kohle auf der Außenseite, oder andersherum nach einer anderen Lesart (das macht die Sache komplizierter). Der Grund warum man aus der Antichi nicht trinken darf ist: Weil ihn der Boden wärmt.

Es ist mir nicht gelungen festzustellen was ein Antichi ist. Vermutlich ist es ein Gerät aus der syrischen Stadt Antiochia. Die Beschreibung des Bavli passt auf das große Gerät aus Pompeji,da man die Kohle nach unten legt und den Kessel von oben reinhängt. Die Ansicht des Jeruschalmi ist mir nicht verständlich. Rambam sagt, dass es sich von selbst heizen würde, wenn man die Kohle entferne. Zwar passt es auf keines der erwähnten Geräte, doch bei Heron von Alexandria gibt es einen interessanten Automaten:
Aus Herons Pneumatica


Dieses Gerät funktioniert wie alle oben erwähnten mit der Besonderheit, dass im Wasserzylinder noch ein Zylinder sich befinden. Dieser Zylinder ist gefüllt mit heißem Wasser, das schnell verdampft. Der Dampf geht durch das Rohr und kommt aus dem Mund der Figur. Dabei heizt er die in der Mitte liegende Kohle mehr an. Die Röhre an der linken Seite dient dazu Kaltes Wasser nachzugießen. Dabei schiebt das kalte Wasser das heiße Wasser nach oben. Auf diese Weise kann man immer heißes Wasser abzapfen. Zwar glaube ich nicht, dass dieses Gerät mit Antichi gemeint ist, doch finde ich es trotzdem eine interessante Erfindung die Kohle durch Dampf anzufachen.  

Zuletzt muss man sich die Frage stellen warum ein Antichi problematisch ist. Auch wenn er sich von selbst heizen würde, oder durch seinen Boden, oder durch seien Wände, warum ist das ein Problem. Man darf doch heißes Wasser am Vorabend des Schabbat auf einem Herd stehen lassen, sodass es für Schabbat warm bleibt, warum darf man es bei einem Antichi nicht? Nach Raschi liegt das Problem, dass ein fällt es unter das Gesetzt von Wärmeisolierung durch das Einwickeln in etwas. Die Mischna in Schabbat 4 beschreibt Materialien, die zur Wärmeisolierung benutzt werden dürfen. Nach der Meinung von Ritva ist ein Antichi verboten, weil man das Wasser vor Schabbat nicht genügend gekocht hat und der Antichi das Wasser am Schbbat sehr stark wärmen wird. Nach Raschba ist es verboten, weil die Menschen daran gewohnt waren ein Antichi immer zu befüllen, sodass man vergessen es sei Schabbat und kaltes Wasser nachgießt. Letztendlich bleibt die Frage offen. 

In diesem Bild versteckt sich eine Authepsa