Sonntag, 25. Februar 2018

Die Kreuzigung von Haman und Purim

Michelangelos Haman

Michelangelo, der große Meister der Bildhauer und Malkunst, malte die Decke der Sixtinischen Kapelle aus. Die Sixtinische Kapelle ist der Ort, wo die Wahl des Papstes stattfindet. Michelangelo arbeitet daran von 1508-12 und malte 24 Tage lang am Gemälde von Haman.
Beim Betrachten des Gemäldes scheint das einzige richtige Detail Hamans unbeschnittener Zebedäus zu sein. Was ist mit dem Rest? Warum hängt Haman gekreuzigt am Kreuz? Wir lesen doch in Esther 5:14 wie Hamans liebenswürdige Frau Seresch Haman den Rat gibt seinen Erzfeind Mordechai loszuwerden, indem er ihn an einen Pfahl (עץ) hängen soll. Die Sache nimmt einen anderen Lauf, Haman wird selbst Opfer seines bösen Plans und endet hängend am Pfahl (8:7). Also plante Haman Mordechai auf einem Stück Holz aufzuspießen.
Hat Michelangelo etwas mißverstanden? Nein hat er nicht. So wie sein gehörnter Moses, beruht auch die Kreuzigung von Haman auf der lateinische Bibelübersetzung , die Vulgata. Dort steht nämlich, dass Haman ein Kreuz (crux) aufstellte und selbst daran gehängt wurde (5:14, 8:7)

Septuaginta

Jetzt stellt sich die Frage wie die Vulgata, bzw. der Übersetzer Hieronymus, darauf kam, Pfahl mit Kreuz zu übersetzen? Die Antwort ist einfach. Hieronymus benutzte die Septuaginta, also die griechische Tora Übersetzung aus dem 3. Jh. v.d.Z. (wobei Esther etwas später übersetzt wurde). In der Septuaginta wird die Kreuzigung von Haman im folgendem Kontext erwähnt. Die Szene ist dramatisch und zugleich witzig. Die Königin Esther erzählt dem König Achaschwerosch im Beisein von Haman über dessen Plan die Juden umzubringen. Haman hat bis jetzt nicht gewusst, dass Esther Jüdin ist. Der König Achaschwerosch wird sauer und geht heraus, um sich abzukühlen. Während Esther und Haman allein sind, fällt Haman ihr zu Füßen und winselt um sein Leben. Der König kommt wieder und mißversteht die Pose. Er denkt Haman möchte die Königin verführen. Zufällig war ein Eunuch des Königs zugegen und ihm fiel ein: war da nicht ein Pfahl den Haman errichtet hat? Der König hat einen Gedankenblitz und sagt (7:9):
εἶπεν δὲ ὁ βασιλεύς σταυρωθήτω ἐπ᾽ αὐτοῦ
Er soll daran gekreuzigt werden
Haman wird gekreuzigt, die Juden werden gerettet und Mordechai und Esther sind die Helden.
Im hebräischen Text steht nichts von Kreuzigung, sondern von Hängen (=תלה). Warum haben die Übersetzter der Septuaginta das Hebr. תלה (=hängen) mit σταυρόω (=kreuzigen) übersetzt?

Herodot

Den historischen Hintergrund gibt uns Herodot. Er berichtet wie der Perser Darius (דָּרְיָוֶשׁ) an die 3000 Babylonier ans Kreuz nagelte (3.159). Die Kreuzigung war eine übliche Art der Hinrichtung bei den Persern. Das bestätigt auch Josephus in seiner Nacherzählung der Esther Geschichte (Ant. 21:268) Also wollten die Übersetzer von Esther diese persische Art der Hinrichtung auf die Esther Geschichte übertragen. Jetzt könnte man denken, dass diese Interpretation nur ein Einfall der Septuaginta sei und dass sich keine Spur davon im traditionellen Judentum finde. Doch man wird sehr überrascht sein.

Targum Scheni

Der 2. Targum zu Esther (Targum Scheni) ist eine Übersetzung ins Aramäische und zugleich ein Midrasch. Der Targum bringt viele Geschichten und Erweiterungen und macht das Buch um etwa 50% länger. Er schreibt zu Vers 8:7 folgendes:
הא ביתא דהמן יהבית לאסתר ויתיה צליבו על צליבא על דפשׁיט ידיה ביהודאי
Siehe, das Haus Hamans habe ich Esther gegeben, und ihn kreuzigte man ans Kreuz, weil er seine Hand gegen die Juden ausgestreckt hat.
Der Targum sieht Hamans Hinrichtung als Kreuzigung. Schauen wir uns mal die Wörter Genauer an. Der Targum spricht von צליבו על צליבא. Im modernen Hebräisch bedeutet צלָב Kreuz. Hat es auch die gleiche Bedeutung in der Sprache der חַזַ"ל? Nach den Mitarbeitern von Artscroll, nein. Sie übersetzen תלה und צלב immer als hängen. Doch kann das sein? Schauen wir uns einige Beispiele an wo das Wort צלָב vorkommt und versuchen aus dem Kontext die Bedeutung abzuleiten.

Beispiel Get

Eine Ehe wird nur durch Scheidung oder den Tod des Gatten aufgelöst. Der Gatte vollzieht die Scheidung indem er seiner Frau einen Scheidebrief überreicht (גט Get). Wenn der Gatte die Scheidung verweigert, kann die Frau nicht weiter heiraten. Dieser Umstand der Frau heißt agunah (עֲגוּנָה=gebunden). Das gilt auch, wenn der Mann “nur mal eben Zigaretten holen” geht und nicht wieder kommt oder wenn er in den Krieg zieht und verschollen wird. Stirbt der Mann, wird die Frau frei und kann wieder heiraten. Das geht aber nur, wenn es einen Zeugen gibt, der mit Klarheit den Tod des Mannes bezeugen kann.
Im Talmud Gittin 70b:
ראוהו מגויד או צלוב על הצליבה ורמז ואמר כתבו גט לאשתי הרי אלו יכתבו ויתנו
Wenn man einen zerschnittenen oder am Kreuz geschlagenen sieht und er durch Zeichen andeutet, dass man seiner Frau einen Scheidebrief schreibe, dann schreibe man ihn.
Man stellt fest: Der Mann ist nicht sofort tot, er kann Zeichen geben. Wenn צלב hier hängen hieße und nicht kreuzigen, dann wäre diese Stelle nicht verständlich. Denn ein gehängter kann keine Zeichen geben und außerdem bräuchte man sie auch nicht, weil der Tod in kürze eingetroffen wäre. Aber hier scheint die Person noch eine weile zu leben. Hätten die Zeugen ihn nur am Kreuz hängen sehen, wäre es kein eindeutiger Beweis für den Tod des Mannes.
Das sagt auch die Mischna in Jebamot 16:3 so:
אין מעידין אלא עד שתצא נפשו ואפילו ראוהו מגוייד וצלוב
Man darf nicht bezeugen bis seine Seele ausgegangen ist, selbst wenn man ihn zerschnitten oder gekreuzigt hat.
Der Zeuge muss also warten bis der Mann stirbt. Wartet er nicht ab, wird seine Zeugenaussage bestritten und die Frau kann nicht geschieden werden. Aber warum? Warum ist die Beobachtung der Kreuzigung kein eindeutiger Beweis für den Tod? Das verrät der Jeruschalmi zur Stelle:
וצלוב על הצלוב אומר אני מטרונא עברה עליו ופדאתו
Bezüglich des am Kreuz gekreuzigten — Ich sage, eine Frau kam vorbei und befreite ihn.
Hieraus ergibt sich, dass es für den Gekreuzigten noch eine Überlebenschance gibt. Er kann bei einer Nacht und Nebel Aktion von einer Frau abgehängt werden. Deshalb ist es nötig festzustellen, dass der Mann tatsächlich tot ist. Bedeutete hier צלב hängen, wie hätte er Überleben können? Übrigens fügt der Jeruschalmi hinzu, dass folgende Beobachtungen nicht unmittelbar den Tod bedeuten: Jemand wird in eine Löwenhöhle geworfen, denn ein Wunder könnte geschehen wie für Daniel. Jemand wird in einen glühenden Ofen geworfen, denn ein Wunder könnte geschehen wie für Mischael, Hananiah und Azariah. Jemand fällt in eine Grube voll von Schlangen, denn er könnte ein Schlangenbeschwörer sein. Parallel dazu legt der Midrasch Esther Rabba 9:2 folgende Worte in den Mund von Seresch, der Frau von Haman:
אמרה לו אשתו אדם זה שאתה שואל עליו אם מזרע היהודים הוא לא תוכל לו אם לא תבא עליו בחכמה במה שלא ניסה אחד מבני אומתו, שאם תפילו לכבשן האש כבר הוצלו חנניה וחביריו, ואם לגוב אריות כבר עלה דניאל מתוכו, ואם תאסרהו בבית האסורים כבר יצא יוסף מתוכו, ואם במולי תסיק תחתיו כבר התחנן מנשה ונעתר לו הקדוש ברוך הוא ונפק מיניה, ואם במדברא תגלוניה כבר פרו ורבו אבותיו במדבר וכמה נסיונות נתנסו ובכולן עמדו וניצלו, ואם עיניו תעוור הרי שמשון דקטל כמה וכמה נפשתא מפלשתאי כד עויר, אלא צלוב יתיה על צליבא דלא אשכחינן חד מן עמוי דאשתזיב מניה
Seine Frau sagte ihm: Dieser Mensch, den du töten willst (Mordechai), ist er Jude, wirst du ihn nicht bezwingen können, wenn du nicht mit List handelst, womit noch keiner seiner Väter geprüft wurde. Wenn du ihn in einen glühenden Ofen wirfst, Hananiah und seine Freunde wurden daraus errettet. Wenn du ihn in eine Löwengrube wirfst, Daniel hat es überlebt. Steckst du ihn ins Gefängnis, Josef wurde daraus befreit. Setzt du ihn auf glühendes Eisen, Menasche hat zu Gott gebetet und wurde befreit. Verbannst du ihn in die Wüste, seine Vorfahren waren fruchtbar und vermehrten sich in der Wüste. Blendest du seine Augen, Schimschon war wurde geblendet und hat viele Philister getötet. Kreuzige ihn ans Kreuz (צלוב יתיה על צליבא), denn niemand aus seinem Volk hat es bisher überlebt. (ob das eine Anspielung auf etwas ist?)
Das ist ein sehr schöner Midrasch, der die Schicksalsschläge der Helden aus dem Tanach zusammenfasst. Aus den genannten Beispielen ist die Bedeutung von צלב als Kreuz ersichtlich.
Noch zwei Beispiele möchte ich bringen, um zu beweisen, dass צלב Kreuz bedeutet.

Beispiel Chagall und Midrasch

Was ist von diesem Bild von Marc Chagall zu Halten?
Das ist eine Szene aus der Akeda (Gen. 22:1-19). Der Engel erscheint und verbietet Abraham Isaak zu töten. Doch was ist da im Hintergrund? (Der rote Kreis gehört nicht zum Bild) Ist das etwa ein Kreuz? Und ein Mann der das Kreuz trägt? Tatsächlich. Ich wette, dass alle Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen nur eines hier erkennen. Denn bestimmt haben sie niemals von diesem Midrasch gehört.
ויקח אברהם את עצי העולה וישם על יצחק בנו כזה שטוען צלובו בכתפו
Abraham nahm das Holz für das Ganzopfers und lud es auf seinen Sohn Isaak, wie Jemand, der sein Kreuz auf seiner Schulter trägt.
Und wieder begegnet uns hier das Wort צלב. Die Autoren des Midrasch haben zur Zeit der Römer gelebt, sie wussten, dass der Verurteilte sein Kreuz selbst zum Ort seiner Hinrichtung trägt. (Das berichtet auch Plutarch in Mor.554) Deshalb übertrugen sie es auf Isaak. Als ob Abraham Isaak mit dem Kreuz andeuten wollte, dass er das Opfer sei und bald sterben werde. (Sogar Artscoll muss in einer Fußnote zugeben, dass es hier um Kreuzigung handeln könnte.)

Beispiel Esther Rabba

Kehren wir zu Esther zurück. Wenn wir uns von der Bedeutung von צלב für Kreuz noch nicht überzeugt haben, wird der Midrasch Esther Rabba 10:5 Licht uns Dunkle bringen. Haman beschwert sich über sein Unglück wie Mordechai immer wieder über ihn triumphiert:
אמש אני הייתי עסיק להתקין ליה צליבא והקב"ה מתקין ליה כלילא, אני הייתי מתקן לך חבלים ומסמרים והקב"ה מתקן לך לבוש מלכות, אנא בעינא מן מלכא למיצליב יתך על צליבא והוא אמר לי למירכב לך על סוסיא.
Gestern bereitete ich für ihn (Mordechai) das Kreuz (צליבא) vor, aber Gott hat für ihn die Krone vorbereitet. Ich bereitete Seile und Nägel (חבלים ומסמרים), aber Gott hat für ihn die Königskleidung bereitet. Ich ging zum König um die Erlaubnis seiner Kreuzigung zu bitten, aber er befahl mir ihn auf das Pferd zu setzten.
Hamans Absicht war also die Kreuzigung, da er Seile und Nägel bereitstellte, bis sein Plan vereitelt wurde. Und wohin soll das jetzt alles führen? Wenn wir jetzt wissen dass צלב Kreuz bedeutet, können wir das folgende merkwürdige Gesetz verstehen.

Jetzt wird es interessant.

Nachdem Kaiser Konstantin (3. Jh.) die Kreuzigung im römischen Reich abgeschafft hat, ist das Kreuz vom Hinrichtungswerkzeug zum religiösen Symbol der Christen geworden (Meiner Meinung nach eine makabere Vorstellung aber Mosambik hat ja auch eine Kalaschnikow in der Fahne) Am 29. Mai 408 wurde in Konstantinopel ein Gesetz erlassen. Das Gesetz verbietet den Brauch ein Bildnis von Haman zu verbrennen, das an einem Kreuz hängt. Dieser Brauch wurden von den Christen als Verhöhnung ihres Glaubens empfunden.
Iudaeos quodam festivitatis suae sollemni Aman ad poenae quondam recordationem incendere et sanctae crucis adsimulatam speciem in contemptum Christianae fidei sacrilega mente exurere provinciarum rectores prohibeant, ne iocis suis fidei nostrae signum inmisceant, sed ritus suos citra contemptum Christianae legis retineant, amissuri sine dubio permissa hactenus, nisi ab temperaverint.
Die Gouverneure der Provinzen sollen den Juden verbieten Haman anzuzünden, in einer gewissen alljährlichen Feier, in Erinnerung an seine Strafe und das Verbrennen der Gestalt, die dem heiligen Kreuz nachgebildet ist, mit frevelhafter Absicht und in Verachtung des christlichen Glaubens. Damit sie nicht das Zeichen unseres Glaubens mit ihrem Spaß verbinden und sie sollen ihren Brauch in Schranken halten das christliche Gesetz zu verspotten. Denn sie werden das verlieren, was ihnen bisher gestattet wurde, wenn sie sich nicht mäßigen.
Also was haben wir hier? Die Juden in Konstantinopel im 5. Jh. hängen Haman ans Kreuz und verbrennen ihn am Purim? Das scheint also ein alter Brauch zu sein. Nach 1-2 lechaims unverdünnten 18% prozentigen Weins hat man schon den Unterschied zwischen „verflucht Haman, segnet Mordechai” vergessen (Rava hat auch Rav Zeira im Vollrausch getötet (Megilla 7b)). Was ist der Ursprung dieses Brauchs? Ich denke es ist die Tradition, geschöpft aus den Midraschim, die Hamans Hinrichtung als Kreuzigung verstanden haben. Die Juden haben nicht in frevelhafter Absicht praktiziert und niemand fand daran Anstoß bis das Kreuz zum religiösen Symbol geworden ist. Einen ähnlichen Brauch finden wir in Babylonien, jedoch ohne Kreuz. Hier ist ein Responsum eines Gaons aus Babylon.
מנהג בבבל ובעילם הבחורים עושים צורה בדמות המן ותולין אותה על גגותיהן ד׳ וה׳ ימים וביום הפורים עושין מדורה גדולה ומשליכין אותה הצורה באש
Ein Brauch in Babel und Elam: Die Burschen machen eine Figur von Haman und hängen sie auf ihre Dächer für 4 oder 5 Tage. Am Purim machen sie ein großes Lagerfeuer und werfen diese Figur hinein.
Durch die Jahrhunderte entwickelten sich immer Bräuche Haman zu verspotten. Ich habe auch von einer Jeschiwa in Berlin gehört, wo die Burschen vor Purim eine Haman Puppe auf einen Galgen hingen. Als der Wärter in der Morgendämmerung den Hof betrat und die Schattenrisse einer Person sah, die am Galgen hing, rief er sofort die Polizei. Als es sich jedoch herausstellte, dass es eine Puppe war, haben sie fröhlich miteinander Purim gefeiert.
Übrigens, was viele nicht wissen. Michelangelos gehörnter Moses hat auch eine Quelle im Midrasch. In Midrasch Tehilim zu Psalm 75 heißt es:
עשר קרנות הן שנתן הקדוש ברוך הוא לישראל, קרן אברהם…קרן יצחק…קרן משה, שנאמר כי קרן עור פניו
Es gibt 10 Hörner, die der Ewige Israel gab. Das Horn des Abrahams…das Horn von Isaak…das Horn von Moses, denn es heißt: Die Haut seines Gesichtes hatte Hörner (Ex. 34:29).

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